Zu Fuß gehen kann Sie von hier nach dort bringen, aber es ist kein weit verbreitetes kulturelles oder sportliches Ziel für Amerikaner. Finden Sie heraus, wie ein Mann von einer intensiven High-Impact-Sportart zum Gehen wechselte und so seinen Weg zu einem gesünderen, glücklicheren Leben fand.
In den USA ist das Zu-Fuß-Gehen oder Walking (wie der Ami sagen würde) kein wesentlicher Bestandteil des alltäglichen Lebens und vielerorts wird es nicht einmal als Fortbewegungsmittel in Betracht gezogen – vielleicht wegen des billigen Benzins und der endlosen Meilen von Straßen, die für Autos und nicht für Menschen gebaut wurden. Es handelt sich jedoch um eine Aktivität, deren Vorzüge unser Autor dort für sich erkannte, auch wenn sie sich im Verborgenen abspielten. Lesen Sie weiter, um die Reise eines Mannes zu erleben, der bis dato nur Respekt vor intensivem Sport hatte und dann die Vorteile entdeckte, die es mit sich bringt, einfach einen Fuß vor den anderen zu setzen, um Größe zu erlangen.
Bei -25°C sammelten sich meine Tränen in einem gefrorenen Kuddelmuddel und klebten meine Wimpern leicht zusammen, als meine Gruppe und ich den Ammonoosuc Ravine Trail zum Gipfel des Mount Washington (Anm.: höchster Berg im Bundesstaat New Hampshire) hinaufstiegen.
Die Gruppe ging weiter und wir wurden schließlich mit dem schönsten Wetter belohnt, das der Berg zu bieten hatte. Von -25°C schoss es auf laue -2°C hoch, es war windstill und die strahlende Sonne fühlte sich wie ein Frühlingstag in New Hampshire an.
Schneebedeckte Pfade wichen felsigen Strecken und der Höhenanstieg von 1.158 m bis zum Gipfel belohnte uns mit einer 360°-Aussicht auf die umliegenden Bundesstaaten. Die Anstrengung ließ uns nach und nach bis auf eine Kleidungsschicht herunterstrippen, statt wie üblich in Shirt, Zwischenschicht und Windjacke zu wandern. Wir stellten uns auf und machten spaßige Bilder. Dabei posierten wir stolz mit freiem Oberkörper und Eispickeln in der Hand, um unsere Stärke zu demonstrieren.
Wer hätte gedacht, dass man sich beim Gehen so stark fühlen kann?
Ich definitiv nicht. Ich stamme aus Iowa (Anm.: US-Bundesstaat im Mittleren Westen der USA), wo niemand zu Fuß unterwegs ist, es sei denn, um Sport zu treiben. Folglich gibt es auch kaum öffentliche Verkehrsmittel und die Einzigen, die mit dem Bus fuhren, als ich aufwuchs, waren Menschen mit Behinderungen, solche, die ihren Führerschein wegen Trunkenheit am Steuer verloren hatten oder arme Menschen.
Ich hatte das Glück, zu keiner der oben genannten Gruppen zu gehören, weshalb ich überall mit dem Auto hingefahren bin. Dabei wohnte ich bequeme 20 Minuten zu Fuß von meinem ersten Job entfernt, einem Sandwich-Laden direkt am Mississippi, und nicht ein einziges Mal nutzte ich die Gelegenheit, an einem der berühmtesten Flüsse der Welt entlang zu gehen.
Zu Fuß gehen gehörte einfach nicht in die Kategorie „Cool“. Im Alter von 14 Jahren war ich 1,77 m groß, wog 63 kg und wollte nicht am regulären Sportunterricht teilnehmen – ich wollte Masse. Ich begann mit dem Gewichtheben als Teil eines Highschool-Programms in Iowa, das „Bigger, Faster, Stronger“ hieß. In meinem ländlichen Bundesstaat, das stark vom amerikanischen Football geprägt ist, wurde man respektiert, wenn man ein „Hoss“ war – der Begriff für einen großen und starken Mann.
Mein Lehrer im Gewichtheben brachte mich mit einem Jungen namens Julian zusammen, der 1,90 m groß war, mehr als 100 kg wog, in der Little League Baseball World Series gespielt hatte und als Neuling in der High School bereits mehrere Rekorde im Gewichtheben aufgestellt hatte. Später spielte Julian in der NFL (Anm.: US-amerikanische Profiliga im American Football) als Center. Ja, er war ein echter Brocken.
Ich hingegen spielte Saxophon in der Jazzband.
Aber die Deadlifts, Kniebeugen und andere Gewichthebeübungen stürzten mich in einen metabolischen Wahnsinn. Innerhalb von drei Monaten nahm ich 12 Kilo zu, hauptsächlich an Muskelmasse. Bis zum heutigen Tag habe ich immer noch die Dehnungsstreifen auf meinen Schultern, die den massiven Muskelzuwachs beweisen, den ich in so kurzer Zeit aufgebaut habe. Natürlich nahm auch mein Selbstvertrauen massiv zu.
Sogar während meiner Zeit im hippen College in Marlboro, Vermont, habe ich regelmäßig Gewichte gestemmt, obwohl dort ‚groß und stark‘ zu sein so viel weniger an sozialen Stellenwert bedeutete. Aber ich ergänzte mein Gewichtheben mit der auf dem Campus beliebteren Sportart Fußball, die ich vier Tage pro Woche im Team der Fighting Dead Trees ausübte und die Sprints halfen auch beim Muskelaufbau.
Aber gehen? Keine Chance. Ich weigerte mich, auch nur 15 Minuten von der Mensa zu der Hütte im Wald zu gehen, in der ich wohnte. Ich sprang in meinen Honda Accord, zündete ihn an und fuhr wie eine Fledermaus aus der Hölle zwei Minuten lang an den urteilenden Gesichtern der Professoren vorbei, die manchmal Langlaufski fuhren, um den Campus zu erreichen. Gehen zum Vergnügen gab es nie. In den vier Jahren, die ich in den Green Mountains von Vermont gelebt hatte, machte ich genau einen Waldspaziergang am Familientag im ersten Studienjahr und das war’s.
Nach dem College verschlug es mich nach Spanien, wo ich mich mit einem 60-jährigen spanischen Philologen anfreundete, der sehr gerne wandern ging und mich mitnahm. Zweimal pro Woche gingen wir in den Wüstenbergen von Murcia drei bis vier Stunden wandern und bei dem Ausblick auf die Olivenhaine, die zwischen den Gipfeln zu sehen waren, wilden Dattelpalmen, Traubenreben und die Flora, die am Wegesrand entlang wuchs, entdeckte ich die Liebe zum Wandern.
Dennoch identifizierte ich mich immer noch mit dem Gewichtheben und es war weiterhin die Hauptsportart, die ich regelmäßig ausübte, bis ich eines Tages 27 war und in Kasachstan die Familie meiner Frau besuchte. Ich machte einige Wiederholungen der Arnold Presse und spürte ein kleines Zucken in meinem linken Schulterblatt.
Innerhalb weniger Stunden lag ich auf dem Boden und krümmte mich vor Schmerzen. Jeder Atemzug fühlte sich an, als würde ein Messer in meine Rippen stechen, und jedes Mal, wenn ich meine Arme ausstreckte, fühlte ich mich vor Schmerz gelähmt. Es war das erste Mal, dass ich als erwachsener Mann vor Schmerzen weinte. Meine Schwiegereltern riefen eine Ärztin, die mir Schmerzmittel spritzte. Einige Monate danach versuchte ich, leichte Gewichte zu heben, nur um einen weiteren Rückenkrampf zu erleiden. Und dann noch einen. Und dann noch einen, sogar bei alltäglichen, banalen Aufgaben.
Ich musste mir immer wieder von der Arbeit freinehmen, weil ich Schmerzen hatte. Nicht heben zu können, fühlte sich entmannend an und mein Selbstvertrauen war am Boden.
Aber wenn das Leben dir Berge schenkt, dann besteigst du sie – und genau das habe ich getan.
Meine Entdeckung des ‚Gehens zum Vergnügen‘ in Spanien führte zu mehreren Wanderungen in den White Mountains von New Hampshire. Was ich aber nicht erwartet hatte, war, dass das Wandern auf diesen Gipfeln sich als Genesung meiner Rückenschmerzen entpuppen würde und mir eine Möglichkeit bot, mich groß und stark zu fühlen. Stundenlang draußen in Hitze und Kälte zu verbringen, mit keiner anderen Option, als auf meinen beiden Füßen anzukommen, war motivierend. Und wenn ich schon keine Gewichte stemmen konnte, dann konnte ich wenigstens Berge wandern und mich wie ein harter Kerl fühlen.
Ich bin das Jahr nach meinem Unfall beim Gewichtheben durch Hitze, Kälte, Laub, Eis und Schnee gegangen. Und das Beste daran? Ich bekam nie Krämpfe im Rücken vom Wandern und wenn ich dabei Stöcke benutzte, war ich nicht mehr zu stoppen. Wenn ich mal Rückenschmerzen hatte, konnte ich danach immer noch einen langen Spaziergang im Wald machen und am Ende der Wanderung fühlte ich mich fantastisch. Sogar nachdem ich einen Rückenkrampf aufgrund meiner falschen Haltung in der Arbeit erlitten hatte, schaffte ich es ein paar Tage später, meine erste Solo-Wanderung zu absolvieren: 29 Kilometer und 1.500 Höhenmeter.
Was mir erst später bewußt wurde, war, dass das Bergaufgehen meine Beinmuskeln dehnte, was wiederum meinen unteren Rücken entlastete. Das Wandern bergab baute zudem eine feinere Beinmuskulatur auf. Durch den Einsatz von Stöcken gewannen meine Lat- und Trizeps- Muskeln wieder an Masse, so sehr, dass ich das beim Kauf von Hemden bemerkte.
Aber steht die Entscheidung über das Gehen als Therapie bei Rückenschmerzen noch aus? Eine Untersuchung mehrerer Studien zeigte, dass Gehen Patienten bei der Bewältigung von Schmerzen im unteren Rückenbereich helfen kann, doch es gibt auch andere Berichte, die keine eindeutigen Beweise liefern. Obwohl „Gehen“ in diesem Fall nicht unbedingt bedeutet, Berge in vier Jahreszeiten zu überqueren, hat die anfängliche Zugänglichkeit zu diesem „Sport“ meine Liebe zum Wandern in den Bergen erweitert. Auch besteht kein Zweifel daran, dass es meinem Körper und meinem Selbstvertrauen geholfen hat, sich zu erholen.
Ich identifiziere mich nicht mehr mit dem „Hoss“-Typ und mein Körper tut das sichtlich auch nicht, aber ich sehe mich selbst als glücklichen und starken Berg-, Wald- und Stadtwanderer. Die Fähigkeit, bequem und selbstbewusst bei Temperaturen von -30°C bis +30°C in Regen, Schnee, Eis und Wind zu gehen, vermittelt mir das Gefühl von Robustheit, das ich brauche, um mich mit meiner körperlichen Stärke wohlzufühlen, auch wenn ich nicht neben einem zukünftigen NFL-Spieler Bankdrücken kann.
Die Gruppe vom Mount Washington und ich stiegen an diesem warmen Januartag über den Cog Railway den Berg hinunter, einem Weg neben den Bahngleisen, den Touristen normalerweise für den Gipfelaufstieg benutzen. Selbst dann blieb das Gefühl der Stärke und Robustheit bestehen. Der Nonstop-Abstieg durch knöchelhohen Schnee erforderte zeitweise besondere Trittsicherheit an den Hängen, die jeden von uns in die angrenzende Schlucht hätten rollen lassen können. Aber als wir unten ankamen, brachen wir in Gesang aus, der auf einem Insider-Witz des Tages basierte, lachten und festigten unsere gemeinsame Liebe zum Wandern im Freien noch mehr.